
Charakterbildung: Ein Evangelisationsweg
Darum setzt alles daran, dass zu eurem Glauben Charakterfestigkeit hinzukommt und zur Charakterfestigkeit geistliche Erkenntnis, zur Erkenntnis Selbstbeherrschung, zur Selbstbeherrschung Standhaftigkeit, zur Standhaftigkeit Ehrfurcht vor Gott, zur Ehrfurcht vor Gott Liebe zu den Glaubensgeschwistern und darüber hinaus Liebe zu allen Menschen. Denn wenn das alles bei euch vorhanden ist und ständig zunimmt, wird euer Glaube nicht untätig und nicht unfruchtbar bleiben, und ihr werdet Jesus Christus, unseren Herrn, immer besser kennen lernen.
2. Petr 1,5-8
Die Liebe zu allen Menschen lässt uns das tun, was wir tun. Diese Liebe treibt uns und unsere Missionare in ihren Einsatzländern an. Interessant ist, dass diese Liebe aber nicht einfach da zu sein scheint. Sie wächst, entwickelt sich. Der Bibeltext gibt uns eine Reihenfolge an. Es beginnt mit dem Glauben, zum Glauben kommt Charakterfestigkeit hinzu … und dann ganz am Ende kommt die Liebe zu den Geschwistern und allen Menschen hinzu. Mich bewegt nun immer wieder die Frage, was für eine Bedeutung christliche Charakterbildung für uns und die Gesellschaft hat. Denn Charakterfestigkeit steht ganz am Anfang der Aufzählung und hat damit auch eine besondere Bedeutung.
Wir kennen große Persönlichkeiten wie Ignatius von Loyola, Mutter Teresa, Martin Luther King, John Newton oder Teresa von Avila. Diese Persönlichkeiten faszinieren uns, Christen wie Nicht-Christen. Wir bewundern, wer sie sind, was sie tun, wie sie für das Wohl anderer kämpfen. Sie sind uns ein Vorbild für ein gutes, wirksames Handeln.
Für mich persönlich hat Charakterbildung eine sehr hohe Bedeutung, für mein eigenes, aber auch für das gesellschaftliche Leben. Ich würde sogar sagen wollen: Die gereifte Persönlichkeit steht an erster Stelle. Vor den gegebenen Umständen und auch vor den Kompetenzen, Kenntnissen, Fähigkeiten, die eine Person mitbringt.
Thomas Härry beschreibt in „Die Kunst des reifen Handelns“, dass Abraham Lincoln (1809-1865) dafür ein gutes Beispiel ist. In seiner vierjährigen Amtszeit beendete er den Bürgerkrieg, führte die Wiedervereinigung der Süd- und Nordstaaten herbei, setzte die Abschaffung der Sklaverei durch und schuf die Grundlage, dass die USA im 20. Jahrhundert zur wichtigsten Industriemacht der Welt werden konnte. Die gegebenen Umstände und die Kompetenzen, Kenntnisse, Fähigkeiten dieses Mannes waren aber alles andere als ideal. A. Lincoln stammte aus einer armen Familie, mehr als die einfachen Grundlagen von Lesen, Schreiben und Rechnen hatte er nicht gelernt. Den Rest hatte er sich selbst beigebracht.
Was ihn aber als Präsident so erfolgreich gemacht hat, waren seine Versöhnungsbereitschaft und seine Besonnenheit. Sein Mut sich mit Gegnern auseinanderzusetzen. Seine Lernbereitschaft, fehlende Kompetenzen aufzuholen. Seine Sorgfalt, in der Ausarbeitung seiner Reden. Nicht die Umstände waren also ideal, auch hatte er keine überragenden Kompetenzen, mit denen er glänzen konnte. Er war eine gereifte Persönlichkeit mit Charaktereigenschaften, die ihm halfen, sich zwischen zwei Polen zu bewegen, abzuwägen, die Spannungsfelder auszuhalten und zwischen diesen Polen die Lösung zu finden. Sie halfen ihm, nicht in ein vereinfachendes Schwarz-Weiß-Muster zu verfallen, sondern die Dinge differenziert zu betrachten.
Man könnte sagen, selbst, wenn die Umstände für A. Lincoln ideal gewesen wären und er überragende Kompetenzen mitgebracht hätte, es aber an dieser Persönlichkeitsreife gefehlt hätte, dann hätte er in seiner kurzen Amtszeit nicht derart erfolgreich sein können.
Die meisten Menschen wachsen schneller in ihren Positionen, Verantwortlichkeiten, als in ihrem Charakter, in ihrer Persönlichkeit. Einfach auch deshalb, weil das einfacher ist und schneller geht. Die Kompetenzen, Kenntnisse, Fähigkeiten sind nicht unwichtig, das will ich auf gar keinen Fall behaupten, aber wie Johann Wolfgang von Goethe es sagte: „Talente können sich zum Charakter gesellen, er gesellt sich aber nicht zu ihnen.“ Oder mit den Worten von Dr. Bernhard Ott ausgedrückt: „Eigentlich wissen wir es: Unsere Welt braucht mehr als Wissen und Können – gesucht sind reife Persönlichkeiten mit integrem Charakter.“ Mit unserer Reife können wir, auch wenn uns das nicht immer bewusst ist, einen wichtigen, unabdingbaren Beitrag für unsere Gesellschaft leisten. Wir handeln in einer angemessenen Weise, verbessern Arbeitsbedingungen, indem wir biblische Werte leben, wir streben nach Versöhnung und Einheit und vieles mehr. Wir sind der Gesellschaft dann ein Vorbild, auch auf Christus hin, und gewinnen so an Bedeutung für sie.
An dieser Stelle möchte ich euch herausfordern. Ich glaube es liegt an uns Christen, dass wir diesen Zugangsweg, vielleicht sogar Evangelisationsweg, zur Welt erkennen und mutig gehen, indem wir selbst Persönlichkeitsreife erlangen und dann auch bereit werden Schlüsselpositionen einzunehmen, Verantwortung zu übernehmen. Die Welt wird sich wahrscheinlich nicht nach christlicher Charakterbildung ausstrecken, aber wenn sie sie erlebt, dann profitiert sie davon. Und wenn sie profitiert, dann wird sie offener und vielleicht auch interessierter dafür werden.
Andrea Schmidt

Ganz liebe Grüße
euer Editorial - Team
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